Wie Goethe nach China kam

Guo bei der Arbeit

Guo bei der Arbeit

Wenn vielleicht kaum überrascht, daß Goethe China für sich entdeckt hat1, bevor China Goethe entdeckte, verwundert doch, daß die erste nachweisbare Übersetzung eines Goethetextes in die chinesische Sprache erst vor weniger als 100 Jahren publiziert wurde. Schon ein Jahrzehnt später sollte Goethe aber der beliebteste, meistgelesene und meistübersetzte ausländische Dichter in China sein und ein wesentliches Element bei der Entwicklung einer neuen Literatur nach dem Ende der Kaiserzeit. Es lohnt sich daher, genauer zu betrachten, was Goethe in dieser Phase chinesischer Geschichte so schlagartig hat populär werden lassen, und mit diesem Vorgang ist, wie hier gezeigt werden soll, untrennbar der chinesischen Schriftsteller, Geisteswissenschaftlicher, Naturwissenschaftler, Übersetzer, Kalligraph, Revolutionär und Staatsmann Guo Moruo verbunden. Denn obwohl Goethe und sein Werk viele chinesische Dichter in den zwanziger und dreißiger Jahren inspirierten, war es Guo, der am tiefsten in seinem Denken und Schaffen von Goethe beeinflußt war und der ihn durch seine Übersetzungen und Veröffentlichungen in China bekanntmachte.2

Einen Dichter, dessen Werk so stark in der klassischen Antike und dem europäischen Denken wurzelt, in einem Land zu übersetzen und zu rezipieren, das nicht einmal dieselbe religiöse Grundlage, geschweige denn all das für das Verständnis notwendige philosophische, theologische oder mythologische Vorwissen oder auch nur die Begriffe hat, die fremden Dinge und Konzepte zu benennen, ist ohnehin eine schwere Aufgabe. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es zudem keine deutsch-chinesischen Wörterbücher oder Materialien, die es ermöglichten, ein kulturell aufgeladenes Werk wie z.B. Faust über unterschiedliche Wissensstände und kulturelle Grundlagen hinweg zu übersetzen. So kam Goethe auch durch einen Umweg nach China – über Japan.

Nach Chinas Niederlage in den Opiumkriegen 1840-1842 drängten immer mehr Kräfte im Land auf das Ende der Isolationspolitik und auf die Übernahme westlicher Methoden, bis die kaiserliche Regierung schließlich nicht mehr dagegen standhalten konnte. Es folgte eine Phase der Modernisierung, zu deren Beginn ausländisches Know-how in der Ingenieurtechnik und im Waffenbau importiert und die Industrialisierung beschleunigt wurde. Beamte und Studenten wurden erstmals nach Japan, Europa und in die USA geschickt, um für Chinas Aufschwung die nötigen Fertigkeiten zu erlernen. Spätestens jedoch, als die chinesische Nordseeflotte, ausgerüstet mit angekauften deutschen Kriegsschiffen, im Krieg gegen Japan 1894/95 vernichtend geschlagen wurde, gab man die Beschränkung auf bloße Übernahme der Wissenschaft und Technik auf und beschäftigte sich auch zunehmend mit ausländischer Kultur und Geschichte.

Die erste, kurze Goethebiographie wurde 1903 aus dem Japanischen ins Chinesische übersetzt; wenig später erschienen die ersten Übersetzungen von Goethe-Gedichten ins Chinesische durch Ma Junwu, der in Japan und Deutschland chemische Ingenieurwissenschaft und Metallurgie studiert hatte. Es waren Auszüge aus dem Werther und das Gedicht Mignon aus dem Wilhelm Meister, die sinngetreu in klassische chinesische Reime übertragen wurden und die vermutlich die ersten Übertragungen deutscher Literatur ins Chinesische sind. Nach und nach wurden weitere Übersetzungen Goethescher Gedichte von Shu Manshu, Wang Guangqi und Qing Shi veröffentlicht, die Goethe in die altchinesische Schriftsprache übersetzten. Der wichtigste Vermittler zwischen Goethe und China sollte aber erst 1922 das Werk übersetzen, das Goethe zum berühmtesten ausländischen Autor in China aufstiegen ließ: Die Leiden des jungen Werthers, ins Chinesische übertragen von Guo Moruo, machten beide, den Dichter und den Übersetzer, über Nacht bekannt.

Guo Moruo wurde 1892 in einer wohlhabenden Familie in einem kleinen Ort in Sichuan geboren. Zu dieser Zeit war die einzige Möglichkeit, neben relativem Reichtum auch Ansehen und eine hohe Stellung zu bekommen, der Gang durch die Beamtenprüfungen: zentralisierte Examen in mehreren Stufen, mit denen politische Ämter erlangt werden konnten, bzw. es einfacher war, geistige Berufe auszuüben. Da für das Bestehen der Prüfungen die genaue Kenntnis der klassischen chinesischen Bücher ausschlaggebend war, lernte Guo schon im Alter von vier Jahren die für Kinder noch unverständlichen Texte auswendig.

Das Jahrhunderte lang praktizierte Examenssystem brach jedoch, mitten in Guos Ausbildung, in sich zusammen. 1901 erließ die Kaiserinwitwe Cixi ein Edikt, das die Inhalte veränderte, so daß auch Themen der politischen Geschichte, der Künste und der ausländischen Politik abgefragt werden konnten. Erste westliche Schulbücher wurden, teilweise noch unübersetzt, in die nun hastig umorganisierten Schulen eingeführt. Chinas wohlhabende Jugend hatte, neben den weiter im Lehrplan enthaltenen chinesischen Klassikern, nun auch Unterricht in Mathematik, Physik, Englisch, Japanisch und weiteren neuen Fächern. Vier Jahre darauf wurde das System gänzlich abgeschafft; ein Abschluß an den neuen Schulen wurde als Ersatz angesehen, wodurch man, auch ohne das Prüfungssystem durchlaufen zu haben, aufsteigen konnte. Trotz der verhältnismäßig chaotischen Zustände an den Schulen – häufig waren die Lehrer unzureichend ausgebildet und verstanden die neuen Lehrwerke selbst noch nicht; zudem saßen alle Altersstufen gemeinsam in den Klassenzimmern – hatte Guo so die Gelegenheit, sich mit ausländischem Gedankengut zu beschäftigen und sich auch erste Fremdsprachenkenntnisse anzueignen.

Da seine seit seinem jüngsten Kindesalter als spätere Ehefrau angedachte Verlobte früh gestorben war, wurde Guo mit einer ihm unbekannten Frau verheiratet. Auf die Versicherung hin, daß sie sowohl gutaussehend und gebildet sei, als auch ungebundene Füße habe, willigte er ein, bemerkte aber erst zu spät, daß nichts davon der Wahrheit entsprach. Enttäuscht von seiner Familie, aber auch vor allem davon, sich wider besseres Wissen auf eine arrangierte Hochzeit eingelassen zu haben, reiste Guo schon wenige Tage später aus Sichuan ab und gelangte über verschiedene Zwischenschritte schließlich 1913 als 21jähriger nach Japan, um Medizin zu studieren, da er hoffte, auf diese Weise seinem Land dienen zu können. Dort lernte er die japanische Krankenschwester Satô Tomiko kennen, die selbst vor einer arrangierten Ehe nach Tokyo geflüchtet war.

In der Universität hatte Guo den ersten Kontakt mit deutscher Literatur. Ein wichtiger Teil des Medizinstudiums in Japan war das Erlernen der deutschen Sprache als Grundlage der japanischen Medizin, die mit bis zu 22 Wochenstunden intensiv gelehrt wurde. Im Unterricht, der vor allem aus Übersetzungsübungen ins Japanische bestand, lernte er Goethe kennen, genauer Dichtung und Wahrheit, einem Werk, das ihn tief beeindruckte. Eine derartige Autobiographie, in der nicht nur bloßes Aufzählen von Fakten, sondern Reflexion und Selbsterkennung im Mittelpunkt standen, gab es in China nicht. Guo wurde so zu eigenen autobiographischen Schriften inspiriert, die nicht nur in Guos Leben und Denken, sondern auch in die gesamte politische und geistesgeschichtliche chinesische Welt während seines 86-jährigen Lebens Einblick geben.3 Er wurde aber durch Goethe nicht nur zu eigenem Schaffen angeregt, sondern betrachtete ihn damals als idealen Menschen schlechthin, als ein Beispiel für Gleichgewicht der sinnlichen und geistigen Anlagen, für die vollkommene Entwicklung des Menschen. Im Kleeblatt, einer Buchveröffentlichung von Briefen zwischen Guo Moruo, Tian Han und Zong Baihua, die sich in der Hauptsache um Literatur und spezieller um Goethe drehte, wurde insbesondere der Konflikt zwischen dem westlichen Konzept der freien romantischen Liebe und der chinesischen Tradition arrangierter Hochzeiten diskutiert. Durch dieses erfolgreiche Buch hat der Name „Goethe“ zu seiner festen chinesischen Form „Gede“ – zusammengesetzt aus den Schriftzeichen für „Gesang“ und  „Tugend“ – gefunden; davor gab es mehr als fünfzehn Zeichenformen4.

Schriftstellerei und Übersetzung waren mit einem Mal nicht nur Privatvergnügen, sondern wurden bezahlt. Der Weg für erste Literaturgesellschaften war frei, und 1921 gründeten Guo Moruo, Yu Dafu, Cheng Fangwu und Zhang Ziping die Schöpfungsgesellschaft, eine der wichtigsten Literaturgruppen der Zeit. Deren Veröffentlichungen polemisierten gegen mangelnde Qualität in der neuen Literatur und vertraten neue humanistische und ästhetische Ideen, die in der Frühphase entscheidend von Goethes Denken und Dichten beeinflußt waren. Dort gab Guo verschiedene Werke heraus, so auch seine erste Werther-Übersetzung.

Bei der Übersetzung bediente sich Guo einer zu seiner Zeit besonderen Form: Der Umgangssprache. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in China, beeinflußt von westlichen Vorbildern, zahlreiche neue Literaturformen, doch dafür mußte nicht nur ein vollkommen neues Bewußtsein für das, was Literatur darf und soll, geschaffen werden, sondern auch eine neue Schriftsprache. Denn obwohl sich die gesprochene Sprache seit Jahrhunderten weiterentwickelt hatte, war ihre Niederschrift unstatthaft; man bediente sich statt dessen eines zwei Jahrtausende lang verwendeten Stils, der sich am klassischen Chinesisch orientierte. Diese Schriftsprache war nur einer kleinen Elite verständlich, so daß die Bewegung zur Benutzung der Umgangssprache, die sogenannte baihua-Bewegung, durch ihren Erfolg eine ähnlich große Umwälzung mit sich brachte wie hierzulande die Lutherübersetzung der Bibel ins Deutsche.

Die baihua-Bewegung war aber nur Teil einer größeren Bewegung, die zwischen 1915 und 1925 in China wirkte und unter dem Namen Bewegung des Vierten Mai gefaßt wird. Benannt wurde sie nach dem Höhepunkt der Bewegung, den Studentendemonstrationen am 4. Mai 1919. Aufgebrachte patriotische Studenten gingen damals gegen „Landesverräter“ auf die Straße, die sich den territorialen Forderungen der Japaner beugten. Allgemeiner bezeichnet diese Bewegung aber die geistig-literarisch-politischen Strömungen der Zeit, insbesondere den Kampf gegen die starren ethischen Normen des Konfuzianismus, das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit, die Befreiung von imperialistischen Mächten, die Abschaffung feudaler Strukturen, die Frauenemanzipation und auch die Schaffung einer volksnahen Literatur, für die Goethe als Vorbild angesehen wurde.

Guos Werther-Veröffentlichung fiel in das Goethejahr 1922, das auch in China mit einer Vielzahl von Artikeln und Gedenkschriften gefeiert wurde. Das Buch war in der Geschichte der chinesischen Übersetzungsliteratur ein beispielloser Erfolg und zog viele Goetheübersetzungen und insbesondere zahlreiche Übertragungen des Werther nach sich, doch Guos Werther blieb das beliebteste Werk: Bis 1932 wurde es 50 Mal neu aufgelegt. Sehr wenige ausländische Bücher erlangten gleiche Beliebt- und Berühmtheit in China, und nicht wenige bedeutende Dichter dieser Zeit schrieben Gedichte über Goethe. Der Einfluß insbesondere des Werther-Romans in der Literatur dieser Epoche ist unverkennbar: erste chinesische Briefromane tauchten auf, häufig auch mit unglücklichem Liebhaber und nicht selten mit abschließendem Selbstmord – einem Novum in der chinesischen Literaturgeschichte, da der eigene Körper dem Konfuzianismus gemäß den Eltern gehört und eigenwillig verursachte Verletzungen oder gar Selbsttötung als Verstoß gegen das Prinzip der kindlichen Pietät gelten.

Wieso stellte sich dann gerade der Werther-Stoff als so erfolgreich heraus? Goethes Sturm-und-Drang-Zeit hatte mit der historischen Lage in China einiges gemein: Die Sehnsucht nach natürlicher und freier Entwicklung und der Protest gegen die gesellschaftliche Einschränkung und Unterdrückung waren Haltungen, mit denen man sich identifizierte – so auch Guo Moruo, dessen neue Frau nie von seiner Familie akzeptiert wurde und der selbst an den Beschränkungen seiner ersten, nie aufgelösten Ehe litt. Auch stilistisch mußte der Werther die chinesischen Leser berühren, denn die kunstvolle Übersetzung machte das Werk leicht verständlich, und die sehnsüchtigen Naturbeschreibungen waren der chinesischen Literatur wohlbekannt. Die Offenlegung des eigenen Innenlebens und das Bekenntnis zum Gefühl, zumal bei männlichen Figuren, waren aber in für China neu. Gao Dao, ein anderer Werther-Übersetzer, erklärte das Phänomen: „Menschen die unterdrückt werden, aber weder Mut noch Kraft haben, sich aufzuraffen, wer von diesen würde nicht dem wertherisme huldigen?“ Chinas Jugend war sich in der frühen Republikzeit vor allem in einem einig: So, wie es war, sollte es nicht weitergehen. Nach dem Untergang der letzten Kaiserdynastie war das Land in Gebiete einander bekriegender Militärmachthaber zerfallen. Hilflosigkeit gegenüber der herrschenden Gewalt und das Fehlen eines gemeinsamen, realisierbaren Ziels machte es aber attraktiv, in der eigenen Gefühlswelt zu verharren. Als dieser Zustand schließlich überwunden war, verlor auch Werther wieder an Beliebtheit. Im berühmten, in den dreißiger Jahren entstandenen Roman Shanghai im Zwielicht (Ziye) von Mao Dun kommt der Werther-Roman mehrfach vor, doch wird dort bereits über die Sentimentalität und Tatenlosigkeit gespottet.

Anfang der zwanziger Jahre begann Guo, unter Zuhilfenahme einiger Übersetzungen ins Japanische, Englische und unvollständiger Übertragungen ins Chinesische, seine erste Faust-Übersetzung, die nach ihrer Veröffentlichung für ihre schöne Versbildung und strenge Form bekannt wurde. Besonders der Eingangsmonolog Faustens sprach Guo an, doch obwohl er zunächst die Übertragung beider Teile plante, empfand er als junger Mann Faust II oft als bloße Wortspielerei, einige Passagen als unnatürlich, und es fehlte ihm das Intuitive, das er am jungen Goethe so schätzte, so daß es vorerst bei der Veröffentlichung von Faust I blieb. Der klassische Goethe aber wurde auch von den chinesischen Lesern nicht ganz so warm willkommen geheißen; man bewunderte zwar die Faustische Strebsamkeit und weinte über das Schicksal Gretchens, aber das Buch erreichte nie die Popularität, die der Werther oder die frühe Lyrik Goethes genossen. Eine andere Übersetzung aber sollte für Guo Moruo bald alles ändern: 1924 übertrug er das Buch Die soziale Organisation und die soziale Revolution des japanischen Ökonomen Kawakami Hajime, eines Pioniers des japanischen Marxismus und Professors der Kyoto-Universität. Die Beschäftigung mit diesem Werk machte Guo, wie er schreibt, selbst zum Marxisten – einem der ersten unter den chinesischen Intellektuellen.

Während noch 1932, zum 100. Todesjahr Goethes, trotz der kriegerischen Bedrohung durch Japan von zahlreichen Abhandlungen und Artikeln begleitete Feierlichkeiten in Beijing, Shanghai, Guangzhou und anderen Städten abgehalten wurden, ließ die Begeisterung für Goethes Person und Dichtung während des Japanisch-Chinesischen Krieges (1937-49) langsam nach. Guo veröffentlichte seine Übersetzung von Faust II, und auch Feng Zhi, einer der bedeutendsten chinesischen Goethe-Forscher, veröffentlichte einige Abhandlungen, aber eine von Friedrich Engels geäußerte Bewertung in Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa hatte das Goethebild radikal verändert. Statt Goethe als vollkommenen Menschen zu sehen, übernahm man nun die Ansicht vom dessen Doppelcharakter, dem „genialen Dichter“ einerseits und „dem behutsamen Frankfurter Ratsherrnkind, resp. Weimarschen Geheimrat“ andererseits. Goethes politische Haltungen wurden nie ganz verstanden, wohl aus mangelnder Kenntnis der Verhältnisse im absolutistischen Deutschland und insbesondere in Weimar, aber auch dadurch, daß ein Wort von Engels wie ein Autoritätsargument wirkte, das andersgeartete Untersuchungen lange Zeit verhinderte.

Dennoch lebte Goethes Einfluß weiter, wenn auch manchmal in unerwarteten Formen. Ein Ausschnitt aus den Lehrjahren wurde beispielsweise Vorlage für das revolutionäre Theaterstück des Dramatikers Chen Liting Mei Niang (Mignon), später in Leg deine Peitsche nieder (Fangxia ni de bianzi) unbenannt, das überall in dem von den japanischen Besatzern unterdrückten China auf den Straßen und offenen Plätzen mit großem Erfolg aufgeführt wurde.

Die zunehmende Beschäftigung mit Marx und ökonomischen sowie politischen Problemen in China brachte auch Guo mehr und mehr ab von Goethe, den er nun zuweilen sogar scharf kritisierte. Er gelangte zu der Ansicht, Goethes Kunst verleite die Menschen, die Besserung der gesamten Menschheit nur in der eigenen individuellen Entwicklung zu suchen, und daß die Bedeutung der Gemeinschaftstaten von ihm vernachlässigt werde. Neben Marx sei Goethe nur „ein Leuchtkäferchen im Sonnenschein“. Das Leid seiner Landsleute, das er bei einem Besuch in Peking erst richtig wahrnahm, hatte seine Perspektive verschoben. Guo kehrte mehrfach kurz und schließlich ganz aus Japan nach China zurück, nahm am Nordfeldzug gegen die lokalen Militärmachthaber teil und trat 1927 der Kommunistischen Partei bei. Fortan und bis zu seinem Tode übernahm er zahlreiche politische Ämter, unter anderem als Kulturminister und stellvertretender Ministerpräsident der chinesischen Volksrepublik. Seine archäologischen Analysen und Untersuchungen zur Geschichte des alten China wurden wichtige Bestandteile der marxistischen Interpretation der chinesischen Geschichte; für literarische Übersetzungen blieb allerdings immer weniger Zeit. Durch seine Rolle in der Partei und seine Überzeugung, daß die Literatur in einer Phase, da das Volk leide, Instrument der Politik sein müsse, ist es schwierig, nach seinem Einstieg in die Politik zu unterscheiden, was Guo wider besseres Wissen der politischen Zweckmäßigkeit halber äußerte und was aus inhaltlichen Überzeugungen. Immerhin: in seiner letzten nachweisbaren Äußerung zu Goethe 1954 aber bewertet er ihn positiv.

Mit dem Ende des Krieges und der Gründung der Volksrepublik war wieder mehr Raum für die Besinnung auf Literatur. An der Universität Peking wurde der erste Lehrstuhl für Germanistik gegründet, das Verlagswesen stark zentralisiert, und es wurde entschieden, daß nicht mehrere Übersetzungen desselben Werkes herausgebracht werden. In den ersten 17 Jahren wurden durchgängig die Goethe-Übersetzungen Guo Moruos neu aufgelegt, und nur kleinere Gedichte und Aufsätze anderer Übersetzer verlegt. Doch Goethe rückte auch insgesamt gesehen in den Hintergrund. Statt dessen erweiterte sich das Feld der ausländischen Literatur auf Puschkin, Tolstoi, Gorki und zeitgenössische sowjetische Schriftsteller, sowie Shakespeare, Balzac und andere. Aus Deutschland wurden Anna Seghers, Bertolt Brecht, Friedrich Wolf, Hans Marchwitza und Willi Bredel häufig übersetzt. Goethe jedoch wurde auch unter den Klassikern noch weniger Beachtung geschenkt als Schiller und Heine; neben Engels’ Äußerung war Goethes Haltung während der sogenannten Freiheitskriege wenig beliebt, in denen die patriotische Bewegung Chinas ihre eigene Situation wiederzuerkennen glaubte. Folgerichtig wurde der 200. Geburtstag des Dichters nicht gefeiert.

Durch die Kulturrevolution kam die Beschäftigung mit Goethe schließlich, wie auch fast alle anderen Übersetzungen oder literarischen Produktionen, für viele Jahre zum Stillstand. Liang Zhongdais Faust-Übersetzung, an der er Jahrzehnte gearbeitet hatte, wurde verbrannt, auch Qian Chunqis Übersetzung wurde beschlagnahmt und vernichtet. Neuerscheinungen von Übersetzungen deutscher Literatur waren nur in Taiwan und Hongkong möglich, doch war dort das Interesse gering. Guo Moruo selbst wurde während der Kulturrevolution zwar kritisiert, behielt aber seine Posten bei. Erst Maos Tod im Jahr 1976 beendete die Kulturrevolution, Guos Goethe-Übersetzungen konnten nun auch wieder neu gedruckt werden. Guo Moruo starb 1978, und langsam setzte eine vielfältige Untersuchungs- und Übersetzungsbewegung ein. Zum 150. Todestag Goethes organisierten der chinesische Schriftstellerverband, die Freundschaftsgesellschaft des chinesischen Volkes mit dem Ausland, die Chinesische Forschungsgesellschaft für ausländische Literatur und das Allchinesische P.E.N.-Zentrum große Feierlichkeiten in Peking.

Neue Faust– und Werther-Übersetzungen, die mit einigen Verbesserungen, mehr erklärenden Anmerkungen und einer zeitgemäßen Sprache aufwarten konnten, wurden mit viel Erfolg veröffentlicht, wenn auch Goethe nie wieder eine solche Vormachtstellung bekam wie während der Bewegung des vierten Mai. Dennoch wurde eine vierzehnbändige Werksausgabe veröffentlicht und wichtige Goethebiographien ins Chinesische übersetzt. Goethes gilt heute in China als ein Vertreter der Weltliteratur, die man gelesen haben sollte – wobei immer noch der Werther alle anderen Werke an Popularität übertrifft und die wenigen, meist banalisierenden Faust-Inszenierungen und -Bearbeitungen vermuten lassen, daß das Verständnis dieses Werkes noch auf Schwierigkeiten stößt.

Obwohl man heute nicht umhinkann, Guo Moruos Übersetzungen für ihre schönen Verse und Reime zu loben, überwiegt in der westlichen Rezeption, aber auch bei international aktiven chinesischen Wissenschaftlern eine negative Sicht darauf, da die Bewertung seiner politische Funktion ein objektive Auseinandersetzung mit seinem Werk zu erschweren scheint. Die übersetzerische Leistung, die es bedeutete, zu Guos Zeit Goethe für das chinesische Publikum lesbar gemacht zu haben, wird bei der Kritik häufig vernachlässigt, und doch hätte der deutsche Dichter ohne die Übersetzungen Guo Moruos in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht so populär werden, hätten seine Werke nicht solchen Einfluß auf die Schaffung einer neuen chinesischen Literatur ausüben können.

 

(1) Goethe hatte seit 1802 mit Klaproth, einem der führenden Sinologen der Zeit, Kontakt, las chinesische Literatur in Übersetzung und veröffentlichte auch einige eigene Übersetzungen alter chinesischer Gedichte, die er aus dem Englischen übertragen hatte.

(2) Zur Goetherezeption in China allgemein siehe Wuneng Yang: Goethe in China – 1899-1999, Frankfurt am Main 2000.

(3) Die lesenswerten Abschnitte „Kindheit“ und „Jugend“ sind 1981 und 1985 in Frankfurt am Main erschienen, übersetzt und annotiert von Ingo Schäfer – die vollständige Übersetzung von Guos Autobiographie steht bis heute noch aus.

(4) Fremdwortaufnahme ist im Chinesischen nicht rein lautlich möglich, da jedes lautwiedergebende Zeichen auch immer ein Bedeutungsträger ist. So muß bei der Umschrift jedes Namens aus der Vielzahl der chinesischen Zeichen etwas sowohl lautlich als auch inhaltlich Passendes ausgewählt werden.

3 Kommentare

  1. ich suche die Chinesischen Titel der Uebersetzungen einiger Werke Goethes z.B. des “Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre” . Wie lautet und schreibt sich der Chinesische Titel ?

  2. Guten Tag,

    ich bin natürlich kein Übersetzungsservice, schon gar kein kostenloser. Aber ich bin ja nicht so. Wilhelm Meister wird ins Chinesische übertragen mit 威廉·迈斯特.

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