Für junge Menschen scheint alles so einfach.
Gut, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Manches erscheint geradezu unerreichbar: regelmäßiges Arbeiten, eigene Kinder, oder in meinem Fall die Fahrerlaubnis. Aber zu Beginn grenzenlos ist das Vertrauen darin, daß alles auf der Welt übersetzbar sei. Man liest Bücher und Aufsätze, die hartnäckig erklären, kein Text der Welt sei unübersetzbar, und siehe da, es scheint ganz, als hätten Leute, die etwas für unübersetzbar erklären, einfach nicht die rechte Mühe aufgewendet.
Vielleicht ist es sogar vernünftig, auf die Art an die ersten Übersetzungen heranzugehen – andernfalls hätten wir womöglich weitaus weniger ursprünglich fremdsprachige Literatur in unseren Regalen. Irgendwann aber stößt man an die Grenzen des Übersetzlichen, und ein guter Teil der Übersetzer scheint dann schon leidenschaftlich genug bei der Sache, um trotzdem weiterzumachen. Solche Grenzen zeigen sich in ihrer ganzen Länge und schieren Unüberwindbarkeit beim Versuch, Dialekte zu übersetzen.
Ein Freund in vielen Übersetzungslagen ist Jiří LEVÝs Werk Die literarische Übersetzung. Er äußert sich zum Übersetzen von Dialekten folgendermaßen:
Es ist unmöglich, mit den Mitteln der deutschen Sprache eine Gestalt aus Lady Chatterley’s Lover von D. H. Lawrence als Bewohner von Derbyshire zu charakterisieren oder gar die komplizierte ethnographische Struktur in Mark Twains Huckleberry Finn zu erfassen. […] Eine konkrete Mundart oder eine fremde Nationalsprache sind zu eng mit einer ganz bestimmten Landschaft verbunden, als daß man sie zur Substitution heranziehen könnte. Wenn in J. B. Priestleys Reportageroman aus dem Milieu einer englischen Flugzeugfabrik Daylight on Saturday der schottische Arbeiter Jock sächsischen oder bayerischen Dialekt spräche […], dann würde der Übersetzer keineswegs ein Lokalkolorit schaffen, sondern das Gegenteil erreichen: er würde das Werk in irgendeinem Teil seiner eigenen Heimat lokalisieren.1
Als Lösungswege schlägt Levý das Auslassen vor, andererseits den Hinweis »sprach er in seiner Mundart«, allenfalls den Gebrauch einer regional merkmallosen Kunst-Mundart und nur dann eine Substitution mit einem einheimischen Dialekt, »wo die allgemeine Bedeutung die besondere absolut überdeckt« (d.h. zum Beispiel, wenn ein Dialekt nur zur Karikatur der Figur gebraucht wird). Einen regional merkmallosen Kunst-Dialekt zu schaffen muß allerdings geradezu in einem Soziolekt enden, der andere Aufgaben erfüllt als ein Dialekt und abweichend oder exzentrisch zu klingt, sobald er im Werk mit der Standardsprache kontrastiert wird.
In Dialekt geschriebene Literatur ist in Deutschland nicht gerade en vogue. Wenn Thomas Mann seinen Hans Castorp die plattdeutsche Gewohnheit angedeien lassen möchte, ein st nicht mit dem sch-Laut zu sprechen, so kommt er nicht auf die Idee, das in jedem Satz, den dieser spricht, neu zu verbildlichen, sondern schreibt einmal auf den Anfangsseiten: »Er sagte “Selbstvers-tändlich” mit dem getrennten st«. Die Standardsprache hat sich spätestens mit der Erfindung des Fernsehens so umfassend durchgesetzt, daß über Sprecher mit Dialekt oft gelächelt, über Bücher in Dialekt aber in der Regel nur verständnislos der Kopf geschüttelt wird – selbst in der direkten Rede. Damit steht Deutschland nicht allein da, doch es gibt Ausnahmen: Die italienische Dichtung kennt auch heute noch eine Reihe von Mundart-Dichtungen, und auch in japanischen Büchern finden sich nicht selten Figuren, die sich eines regionalen Dialekts bedienen, häufig, um die damit verbundenen Klischees zu transportieren.
In der Praxis wird Dialekt also bei der Übersetzung ins Deutsche meist übergangen und das, was durch ihn transportiert wird, geht vorloren: die Verbindung mit einer bestimmten Region, deren Merkmalen, einer sozialen Klasse; die eigene Klangwelt und melodische Qualität des Dialekts, der Wehmut, der durch den Klang einer fast verdrängten Mundart aufkommt, ihr Widerspruch zur Hochsprache, der mehr umfassen kann, als bloße Marginalität: auch den aufrührerische Effekt verlischt, den manche Dichtung hervorbringt, die sich bewußt gegen die herrschende Standardsprache entscheidet. Angesichts dieser Fülle an Funktionen, die ein Dialekt haben kann, scheint es geradezu unverantwortlich, auf die Übertragung zu verzichten, doch Lösungen für dieses Dilemma gibt es selten, und dann nur konkret und nicht selten in Form von Fußnoten oder Vorworten.
Und wie so oft irrt die Jugend. Irgendwann fängt sie an zu arbeiten, Kinder zu bekommen, und sogar ich habe mittlerweile eine Fahrerlaubnis. Aber nicht alles auf der Welt ist übersetzlich.
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- Levý, Jiří. Die literarische Übersetzung, Übers. Walter Schamschula, Frankfurt am Main: Athenäum-Verlag 1969, S. 101-102. [↩]
Natürlich kann ein Lokalkolorit in der Übersetzung schwer wiedergegeben werden, aber manchmal ist auch nicht so wichtig, welcher Dialekt gesprochen wird, sondern dass er gesprochen wird. Wenn wie etwa in Pygmalion eine einzelne Figur durch ihren Dialekt auffällt, dann muss dieses Auffallen auch in der Übersetzung vermittelt werden und in dem Fall ist Substitution durch einen anderen Dialekt womöglich das einzige Mittel.
Mundartliche Literatur ist übrigens auch in Deutschland nicht so ungewöhnlich, als Ausdruck von Lokalpatriotismus und/oder zum Erzielen eines selbstironisch witzigen Effektes wird die Mundart auch bei uns öfter eingesetzt.
Das stimmt natürlich – Pygmalion ist ja immer das klassische Beispiel für mögliche Übertragung, weil es auch in erster Linie als Soziolekt funktioniert. Das Gegenbeispiel wiederum ist Huckleberry Finn, bei dem es nicht klappt, weil die Figuren unterschiedlichen Dialekt sprechen, der jeweils konkreten Regionen zugeordnet ist.
Existent ist mundartliche Literatur in Deutschland natürlich schon, akzeptiert als Hochliteratur aber nicht und, wie Du schon schreibst, in der Regel als komische Einlage gedacht. Beim Übersetzen von Literatur, in der der Dialekt nicht als Zugehörigkeit zu einer (Unter-)Schicht und nicht als parodistisches Element gedacht ist, halte ich es aber für problematisch.