Ungenießbares

»Um dem Leser ohne sinologischen Hintergrund einen besseren Zugang zu “Der rote Stein” zu geben, aber auch das Verständnis für die auf den ersten Blick sehr fremden Hintergründe zu erleichtern, wurde bei der Übersetzung besonderer Wert darauf gelegt, auch dem „Anfänger“ in der Welt der asiatischen Literatur einen guten Einstieg zu gewährleisten. So wurden die eher unübersichtliche Personage von 283 auf leserverträgliche dreißig Figuren gekürzt, wobei besonderer Wert auf eine möglichst genaue Beibehaltung aller Beziehungen gelegt wurde. Um das zu erreichen, wurden dementsprechend einige Figuren, die vormals von verschiedenen Personen im Roman verkörpert wurden, gefühlvoll zusammengeschmolzen.

Auch die für den westlichen Leser eher verwirrenden als erhellenden zahlreichen Untergeschichten und Nebenschauplätze, auf denen sich vornehmlich für den Roman unwesentliche Begebenheiten abspielen, sind mit gutem Gewissen in dieser Übersetzung ausgelassen worden – sie hätten die Haupthandlung in verwirrender Weise verkompliziert und das Lesevergnügen eines westlichen Lesers sicherlich eher geschmälert, als etwas dazu beigetragen.

Schließlich wurde sich noch eine winzige Freiheit in der Namenswahl geleistet: Da chinesischen Namen für deutschsprachige Leser nur schwer zu merken sind und erheblich den Lesefluß hindern würden, wurden hier kleine Anpassungen vorgenommen. Die Hauptfigur, im chinesischen Original Han Shimeng, hat in der deutschen Übersetzung den Namen Hans Schmidt, seine Geliebte Mei Langfang heißt Melanie Fischer und so fort. Ich bin mir sicher, daß diese kleine Veränderung dem Leser nur von Nutzen sein wird.«

…all das findet sich natürlich nicht in den Vorworten übersetzter Romane aus China oder Japan und ist allein meiner lästerlichen Feder entsprungen. Darüber sollte man sich aber nicht zu früh freuen, wäre es doch oft ehrlicher, wenn diese Dinge wenigstens notiert würden. Denn trotz all der Aufsätze und Bücher, die schon darüber geschrieben worden sind, wie wichtig vollständige Übertragung und Nähe zum Original sind, findet sich gerade in Übersetzungen ostasiatischer Literatur, die sicher dem deutschen Leser viel Fremdes und Ungewohntes zumutet, immer wieder oben beschriebene Lage.

Neben der Vermutung, daß ein Roman zu kompliziert, nicht spannungsgeladen oder nicht handlungsreich genug für den europäischen Konsumenten sein könnte, können auch ästhetische Unterschiede zu Konflikten führen. Gedichte  aus der Zeit der jungen chinesischen Republik haben, bei aller Faszination für deren Experimentierfreude, ins Deutsche übersetzt oft einen leicht peinlich anmutenden Klang – hier ist ein Bild zu plakativ gewählt, dort eine Handlungsdreh allzu voraussehbar. In China, zumal im China der damaligen Zeit, in dem das Dichten neu erfunden wird, empfindet man, sagen wir,  das zarte Lachen in den Tränen bei der Erinnerung an die Jugendjahre, nicht unbedingt als Kitsch. Wie aber übersetzt man das, ohne die Dichter vor dem deutschen Publikum unverdient zu kompromittieren?

Es ist der uralte Konflikt des Übersetzens: Paßt man an die Zielsprache an und findet möglichst viele interessierte Leser, indem man das Original biegt, oder bleibt man näher an der Ausgangssprache und riskiert Unverständnis, hält aber Treue? Wie häufig in solchen Fällen ist die Wahrheit konkret; ein Patentrezept gibt es nicht. Je nach Publikum, Wirkungsabsicht, Textart, Verlagsvorstellungen und vielem mehr sind beide Extreme und natürlich alle Schattierungen dazwischen denk- und begründbar. Dennoch fragt man sich bei allzu angepaßten und eingedeutschten Übersetzungen oft, warum überhaupt noch übersetzt wird: Wenn man den Geschmack der anderen Kultur für so ungenießbar hält, wäre es da nicht einfacher, gleich ein deutsches Buch, ein deutsches Gedicht zu schreiben?