Bei der Arbeit an den Goetheübersetzungen wird eine Beurteilung über die Qualität der Übersetzungen – sei es auch nur indirekt – nicht ausbleiben können. Um das Rad nicht neu erfinden zu müssen, sind daher Bücher für mich interessant, die schon das notwendige Handwerkszeug dafür mit sich bringen, aus dem ich mir dann das ein oder andere Hämmerchen zum Bearbeiten meiner eigenen Texte ausleihen kann. Anne Gentes Untersuchung zur Evaluation von Übersetzungen – am Beispiel von Akutagawa Ryūnosuke: Kappa, das 2004 im iudicium-Verlag veröffentlicht wurde, schien da die richtige Wahl, denn schließlich verspricht es zu zeigen, wie man Übersetzungen bewerten kann.
Das Buch ist in sieben Teile gegliedert: nach der Einleitung und Vorstellung der vier Texte – des Originaltextes und der drei Übersetzungen – steht ein theoretischer Teil zum Übersetzen und, genauer, zum Übersetzen aus dem Japanischen. Es folgt die Untersuchung der drei Übersetzungen im vierten Teil, der den meisten Raum einnimmt, dann eine Vorstellung von Übersetzungsstrategien und -konzepten mit Einordnung der drei Übersetzungen, am Ende die Evaluation und schließlich eine kurze Abschlußdiskussion mit Ausblick. Ihre Vorgehensweise entspricht dabei oft dem Schema: Rückblick auf die Entwicklung, Diskussion verschiedener Standpunkte und Konzepte, Darlegung eigener Überlegungen und Anwendung auf die Übersetzungen. Doch schon die Einleitung läßt ahnen, was das Problem mit dem gesamten Text sein wird, weswegen hier etwas näher darauf eingegangen werden soll.
Gentes steigt allgemein ein und spricht über Globalisierung und dem Kleinerwerden unserer Welt, fährt fort mit den Anfängen des Kulturkontakts, schreibt über Kulturimport und kommt dann langsam zum Punkt, indem sie sich fragt, warum keine zwei Übersetzungen identisch sind und schließlich zu ihren Fragestellungen, die nicht weniger umfassen als die Fragen, ob Japanisch überhaupt übersetzbar sei, warum dem deutschen Leser Übersetzungen aus dem Japanischen manchmal fremd erscheinen, wo die „Haupthindernisse“ für den Übersetzer liegen, ob diese sich systematisieren ließen und wie man Übersetzungen aus dem Japanischen beurteilen könne. Auch die Frage, ob Hoffnung darauf bestünde, daß Dank Globalisierung auch „das fremde Japan“ ein Stück näher rücke, soll geklärt werden.
Die drei Übersetzungen von Kappa, die Gentes zum Vergleich heranzieht, sind von Kōsaka Yoshiyuki/Dr. Wilhelm Roth, von Watanabe Kakuji/Heinrich Schmidt-Barrien und von Jürgen Berndt. Für die Auswahl des Textes nennt sie vier Gründe: inhaltliche Attraktivität, sprachliche Klarheit, Existenz dreier Übersetzungen im deutschen und Länge des Originals. Eher ungewöhnlich für ein Vorwort sind die Erläuterungen zur japanischen und deutschen Sprache, deren Herkunft und Sprachfamilie beschrieben und für die jeweils einige Charakteristika benannt werden, wobei sogar bis auf die, für schriftliche Übersetzung eigentlich unerhebliche, Lautebene vorgedrungen wird. Das grundlegende Problem der Arbeit zeichnet sich bereits hier ab: Ständige Abschweifungen und der Drang, auch das noch einmal von Grund erklären zu müssen, für das es bereits einschlägige Werke gibt, auf die sich eigentlich nur noch bezogen werden müßte.
Vorerst jedoch zu den gewinnbringenden Aspekten der Arbeit: Der Querschnitt durch die bedeutenden Übersetzungstheorien bietet einen kompakten Überblick zum Thema übersetzen, mit dem bei Interesse in den zitierten Werken weiter gelesen werden kann. Durchaus nützlich für den angehenden Japanologen sind auch Gentes Erklärungen zu Hindernissen bei der Übersetzung vom Japanischen ins Deutsche unter ihrem Gliederungspunkt 4.2, wie zum Beispiel dem Problem, die unterschiedlichen Höflichkeitsstufen im Deutschen wiederzugeben. Dabei besteht jedoch zumeist eine Schwierigkeit: Kappa stellt vergleichsweise wenig Herausforderungen an den Übersetzer, so daß kaum Möglichkeit besteht, interessante Probleme anhand von Beispielen darzustellen. Auch von Akutagawa gibt es jedoch Texte, die komplexer gebaut und kurz sind von denen sogar mehr als drei Übersetzungen ins Deutsche zur Verfügung stehen, so daß nicht ganz klar wird, warum Gentes gerade diesen Text gewählt hat.
Einige Themengebiete, die sie in ihre Untersuchung einschließt, müssen verwundern: Überblicksartige Einführungen in die „Geschichte der Übersetzungswissenschaft“ und die „Geschichte der Übersetzung aus dem Japanischen“, selbst der (wie vieles, bei Koller wiederzufindende) Exkurs zu Übersetzungsmaschinen findet Platz in einem eigenen Unterkapitel. Das alles mag für Leser, für die das Thema neu ist, interessant sein; zur Evaluation von Übersetzungen, bei der doch die besten und neuesten Erkenntnisse gefragt sind, trägt es aber keineswegs bei. Auch bei der genaueren Untersuchung der Übersetzungen geht sie beispielsweise auf Maßeinheiten, Druckfehler oder graphische Gestaltung ein – Dinge, die, wie sie teilweise zugesteht, eigentlich nicht zur Übersetzungsbewertung gehören. Die Frage bleibt jedoch, warum sie sich dann dennoch in einem Buch zu dem Thema wiederfinden.
Da Gentes versucht, alles abzutasten, bleibt kaum Raum für Tiefe. Nicht selten wird die Untersuchung anekdotenhaft und bewußte inhaltliche Wiederholungen finden sich auf Schritt und Tritt, anstatt daß auf Vorangegangenes lediglich verwiesen wird. Noch ermüdender ist aber die Vorliebe der Autorin für Statistik und Wörterzählerei. Das Buch wird durchzogen durch Listen aller Arten; genannt sei als Beispiel eine ausführliche Auflistung der pro Kapitel gesetzten Absätze in jedem der vier Bücher. Sicher kann auch Setzen von Absätzen eine gewisse Auskunft über den Übersetzungsstil geben, doch ist unbestreitbar, daß der Satz: Übersetzung B orientiert sich in der Absatzunterteilung genauer am Original als Übersetzung A., mit den ohnehin notierten Erklärungen, völlig ausreichend gewesen wäre und eine halbe Seite Platz gespart hätte. Das alles kulminiert im vorletzten Teil, indem tatsächlich anhand der vorher festgesetzten Kategorien und einer ausführlichen Rechnung eine Benotung der jeweiligen Übersetzungen vorgenommen wird. Ob es der wissenschaftlichen Arbeit dienlich ist, zu wissen, daß eine Übersetzung mit 1,9 (Kōsaka/Roth), 2,7 (Watanabe / Schmidt-Barrien) oder 1,5 (Jürgen Berndt) abschneidet?
Sind auch einige Untersuchungsgegenstände durchaus interessant, so fehlt doch Gentes in Ihrer Arbeit vor allem eine Untersuchung, die sicher auch kaum in Zahlen darstellbar ist: Die der Gestaltungskraft, der Poetizität der Übersetzung. Sie aber ist es doch, die einen Text maßgeblich formt, und eine Schulnote, die sich zusammensetzt aus 28 „Urteilen“, sagt letztlich nur wenig darüber aus.