Ein Gesichtspunkt des japanischen Lebens, der meine Besucher hier in Osaka am meisten überrascht, ist die Architektur. Das Bild, das im Ausland vorherrscht, sind entweder die Glas-und-Beton-Bauten, die die schicke Innenstadt von Tokyo beherrschen, oder alte Holzbauten mit Schiebetüren, wie sie in der Edo-Zeit gebaut wurden. So denn auch die Überraschung, wenn das echte Japan zum Vorschein kommt. Zum echten Japan gehören, das versteht sich, natürlich auch die Wolkenkratzer und Edohäuser, die meisten Häuser sehen aber eher so aus:
Kaji to kenka wa Edo no hana, heißt es. Mit deutschen Worten: Feuer und Streit sind die Blumen Edos. Wer schon mal “Die drei kleinen Schweinchen” gelesen hat (oder vorgelesen bekommen hat), weiß: Holzbauweise und Langlebigkeit gehen selten Hand in Hand. Dafür braucht es nicht mal einen bösen Wolf, wenn die traditionellen Gebäude aus Holz und Papier bestehen, in der Regel mit Feuer geheizt wird (heute in Form von Ölradiatoren) und man in einem Land lebt, das von Erdbeben heimgesucht wird. Folglich ist das meiste, was der verwunderte Besucher zu sehen bekommt, nach dem zweiten Weltkrieg gebaut worden und sieht auch so aus. Damit die werten Leser gefaßter ins Land der kurzlebigen Architektur reisen können, habe ich eine Photosammlung von Häusern in unmittelbarer Umgebung unserer Wohnung angelegt. Wir leben im Norden der Präfektur Osaka, aber diese Information ist eigentlich zweitrangig, denn so sieht es fast überall in Japan aus.
Es fällt vor allem eines auf: Während die Innenaufteilung der Wohnungen weit stärker standardisiert ist, als man es in Deutschland gewöhnt ist – es gibt z.B. nur eine Handvoll Zimmergrößen und das Bad sieht fast überall völlig gleich aus – gibt es große Vielfalt in der Gestaltung der Außenflächen. Das ist der Bereich, in dem Individualität ausgelebt wird, sowohl, was die Häuser selbst angeht, als auch den Schmuck, mit dem die Bewohner ihr Grundstück versehen. Aber sehen wir uns zunächst nur ein paar Bildern von, wenn es das gibt, typischen Gebäuden an.
Mehr- und Einfamilienhäuser:
Man beachte die Lücke, die zwischen den Häusern gelassen wird, vermutlich, damit mehr Radiatorenöl und Strom für die Klimaanlagen verkauft werden können…
Dazwischen sieht man auch immer wieder diese Art von Behausung:
Von der Illusion, daß in Japan Luxus gelebt wird, kann man sich leicht trennen, wenn man die Häusersituation isoliert betrachtet. Einerseits, das dürfte bekannt sein, ist der durchschnittlich zur Verfügung stehende Wohnraum klein, denn nur etwa 20 Prozent des Landes sind aufgrund der Berglandschaft überhaupt bebaubar. Stellen Sie sich vor, von den anderen Undenkbarkeiten dieser Situation einmal abgesehen, alle Deutschen müßten in Bayern wohnen, und nehmen Sie noch einmal 40 Millionen Leute von anderswo dazu. Wohnraum ist rar. Dazu kommt aber auch die Qualität der Gebäude selbst. Solche Wellblechbuden wie oben sind zwar nicht die Regel, aber auch nicht so selten, wie man es sich wünschen würde. Auch die neu gebauten Häuser haben Eigenschaften, die den wenigsten Mitteleuropäern zusagen werden, namentlich: Dünne, unisolierte Wände und Fenster. In Japan herrscht bis heute eine Leichtbauweise vor, die sich schnell auf und noch schneller abreißen läßt. Die Wände sind vorgefertigt und selten dicker als ein paar Zentimeter. Dadurch ist man nicht nur völlig abhängig von den Außentemperaturen, man hört auch jedes Wort des Nachbarn. Mit den Fenstern, die fast immer einglasig sind und oft schlecht schließen, verhält es sich nicht besser. Es zieht, es beschlägt, und durch die hohe Luftfeuchtigkeit muß man ständig aufpassen, daß die Ecken und Kanten der Wohnung nicht zu schimmeln beginnen.
So weit, so schlecht.
Warum baut man so etwas immer noch? Die Frage weiß ich nicht befriedigend zu beantworten. Oana Druta, die eine Expertin zum Thema Wohnen in Japan ist, erklärte mir, ein Vorteil der Bauweise sei die Anpassungsfähigkeit solcher Häuser an die Bedürfnisse der Bewohner – mit anderen Worten, man kann sehr schnell ein neues Haus auf dem Grundstück errichten. Die durchschnittliche Lebensdauer eines japanischen Hauses liegt bei 35 Jahren. Natürlich gibt es auch Profiteure dieser Bauweise – namentlich die acht großen Hausbaufirmen, die Versorger mit Elektrizität, die Klimaanlagen- Heizungs- und Kotatsu-Firmen, die Radiatorenölfirmen und so fort. Es ist ein bißchen wie mit der Autobahngeschwindigkeit in Deutschland: Jedermann weiß, daß es irrsinnig ist, keine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, und die Unfallzahlen mit tödlichem Ausgang sprechen für sich. So lang aber die Autoindustrie oder der ADAC an Unfällen gut verdienen, wird auch am Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit nicht gerüttelt. Die Hausbauweise in Japan hat sich etwa genauso bewährt wie das fehlende Geschwindigkeitslimit in Deutschland, produziert aber wenigstens weniger Tote.
Genießen Sie, während Sie darüber nachdenken, noch ein paar Bilder von Mehrfamilienhäusern:
Ein paar alte Juwelen gibt es noch zu entdecken, auch hier in Ikeda.
Aber selbst an der neuen Architektur kann man durchaus Geschmack finden, so lange man nicht darin wohnen muß. Wo findet man schon so gut abgestimmte Kombinationen von Eigenheim und PKW?
Nicht jeder braucht Fenster zum Glücklichsein. (Die sorgen, wie gesagt, ohnehin nur für Zugluft.)
Eines meiner Lieblingsgebäude hier, frisch dem Cyberpunk-Genre entsprungen.
Die Begrünung des eigenen Grundstücks wird dagegen oft sehr liebevoll und detailreich gestaltet, z.B. mit einer gut sortierten Heckenbegrenzung.
Oder aber mit verschiedenen Bewohnern, die man sich ins Haus holt.
Oder, indem man seinem Gebäude einfach einen reizvollen Namen gibt.
Vielleicht hätte anstelle all dieser Eindrücke auch mein letztes Bild genügt, um die Vielfalt und Ungereimtheit aufzuzeigen. Wenn Sie also das nächste Mal in Japan sind, seien Sie nicht überrascht, wenn Sie die Architektur immer wieder überraschen wird.
Sehr spannend! Danke dir!
Doch noch eine Frage: hat die Leichtbauweise auch was mit Erdbeben(schutz) zu tun? In Kalifornien hieß es, es werden kaum Steinhäuser – aber auch prinzipiell kaum Häuser mit mehr als zwei Stockwerken – genehmigt, weil es vom Erdbebenschutz her sinnvoll ist.
Danke ebenso!
Soweit ich weiß, gibt es da einen Zusammenhang. Die leichten Wände sind ungefährlicher beim Einsturz. Es ist gewissermaßen die kostengünstige Art von Erdbebenschutz; genauso kann man einen hervorragenden Erdbebenschutz in Beton- und Stahlhäusern bekommen, doch ist dafür wesentlich mehr Kapital nötig. Isolieren könnte man natürlich trotzdem, auch bei Leichtbauweise, und auch doppelt verglaste Fenster stehen dem nicht im Weg. Oana Druta, die ich oben zitiert habe, vermutet, daß diese energieverschwendende Art des Bauens aus einer Zeit stammt, in der man davon ausgegangen ist, daß Elektrizität unbegrenzt, billig zu haben und damit die Antwort auf alle Probleme ist.
Ah ja, dann ist es wohl die gleiche Argumentation – und natürlich auch das gleiche Problem, dass das andere zwar ginge, aber beim Bauen (wenn auch nicht beim Heizen) teurer wäre …