Paradoxe Forschung an fremdsprachlicher Literatur

Jüngst hatte ich mit einer Germanistin, die in Japan unterrichtet, ein interessantes Gespräch zum Sinn und Unsinn der Beschäftigung mit ausländischer Literatur. Sie erzählte mir von einer Doktorandin, die nicht besonders gut das Deutsche beherrsche, aber schon seit zwei Jahren daran arbeite, die Buddenbrooks zu untersuchen. Da es aber schon genug deutsche Forscher gebe, die das Werk intensiv bearbeiten, sei dieses Unterfangen sinnlos – etwas Neues werde sie auf diese Weise nicht finden können. Die Dozentin schlug ihr vor, stattdessen nach einer Verbindung zwischen Thomas Mann und Japan zu suchen und diese zu bearbeiten, denn so sei ein Beitrag zur Forschung möglich. Um die verlorenen zwei Jahre tat es der Dozentin leid.

Dem kann man nicht wirklich widersprechen; auch, wenn für die Doktorandin die zwei Jahre hoffentlich nicht verlorene Zeit waren, sondern möglicherweise wichtig zur Einarbeitung in das Thema, das sie vielleicht später von anderer Seite angehen kann. Indirekt stellt dieses Problem aber auch mein Forschen in Frage. Warum befasse ich mich als Nicht-Muttersprachlerin so allgemein mit einem japanischen Schriftsteller? Gelehrte, die sich nicht erst alle Anspielungen und Wortspiele erarbeiten müssen, sondern aus dem Stehgreif verstehen, könnten meine Arbeit sicherlich schneller erledigen.

Ganz identisch sind die beiden Fälle dann doch wieder nicht. Im Gegensatz zur Thomas-Mann-Forschung in Deutschland steckt die Inoue-Forschung in Japan noch in den Kinderschuhen. Seit seinem Tod hat sie sich zwar aufgerappelt und damit laufen gelernt, doch die erschienenen Publikationen haben meist biographischen Charakter oder handeln vom persönlichen Bezug der Autoren zu Inoue. Eine Untersuchung, die mehrere Werke vergleichend analysiert, ist mir bisher nicht untergekommen.
Dazu kommt die Trennung der Literatur in kinsei und kindai, also etwa: in Vormoderne und Moderne. Bisher gibt es kaum Wissenschaftler, die diese Grenze überschreiten und ein Thema wie die Beziehung zwischen Edo-Literatur und Autoren der Gegenwart aufgreifen.
Das dritte (und wohl nicht letzte) Argument, das eine Behandlung des Stoffes für mich lohnend erscheinen läßt, ist meine theoretische Herangehensweise, die sich von dem, was ich bisher in japanischen Publikationen gesehen habe, ein wenig unterscheidet. Die meisten literaturwissenschaftlichen Werke, die ich in japanischer Sprache gelesen habe, sind entweder präzise philologische Fleißarbeiten oder, wenn ich Pech hatte, eher assoziative Reviews und Zusammenfassungen einzelner Werke. Zwar gab es eine erfreuliche Entwicklung, seit Irmela Hijiya-Kirschnereit 1990 ihr Buch “Was heißt: Japanische Literatur verstehen?” geschrieben hat (in dem man auf erquickliche Weise dazu einiges Unerquickliche lesen kann), aber ein systematisches Aufrollen nach welcher Methode auch immer vermisse ich bisher noch in der Inoue-Forschung.

Wäre denn ein Bezug zu Deutschland denkbar? In der Tat, er wäre es: Inoue hat sich beispielsweise mit Brecht beschäftigt und dessen Einflüsse in Inoues Dramatik sind deutlich zu spüren. Es wäre auch aus anderen Gründen etwas leichter, so ein Feld zu beackern, denn das Werkzeug dafür ist dem deutschen Leser schon bekannt. Dieses spannende Thema überlasse ich dennoch gern einer/m Theaterwissenschaftler/in. Der Bezug zur Edo-Literatur ist für mich interessanter, weil Inoue seinen, dem deutschen Leser oft fremden und unverständlichen, Humor auf die Gesaku-Literatur der Vormoderne zurückführt. Von keinem anderen Schriftsteller kann man mehr über Komik und Humor in Japan erfahren, und das zu erarbeiten, gewissermaßen urbar zu machen, scheint mir der wertvollste Ertrag bei der Beschäftigung mit Inoues Werk.

Bis jemand kommt, der es besser kann, gebe ich also hier mein Bestes.